Täglich erreichen uns ja solche Meldungen von Toden, die schrecklich sind, wo Leute, auch Kinder und Eltern, auf grausame Weise sterben. Oder die Meldungen vom Krieg: wer zählt noch die Toten in Syrien, z.B.? Der Gasangriff auf zivile Bevölkerung ist schon fast wieder vergessen. Es ist eine alte Wahrheit, dass die Menge der Meldungen über Tod und Leiden eine abstumpfende Wirkung haben, und nur das „frische“ Leid überhaupt berichtenswert zu sein scheint.

ehemalige deutsche Nikolaikirche Tallinn (Reval)

Und dann solch eine Katastrophe in Riga. Sie erschüttert mich besonders, aus zwei Gründen: Zum einen ist der Tod mitten in den Alltag der Menschen gekommen, ohne echte Vorwarnung. Er lässt zurück, was er stets zurücklässt – Trauer, Schmerz und Fassungslosigkeit. Zum andern ist der Alltag, in den er kam, mir sehr vertraut: Auch ich kaufe mein Essen in vergleichbaren Märkten, und habe noch nie darüber nachgedacht, dass mit der Statik etwas nicht stimmen könnte. Ich denke an meine Freunde aus meiner ehemaligen Rigaer Gemeinde, an ihr Leben, ihren Alltag, ihre Hoffnungen und Kämpfe und an die unseren hier in Estland, die ja ganz ähnlich sind. Zolitude ist kein reicher Stadtteil, es ist eines der grossen Plattenbaugebiete um Riga. Dort in Zolitude leben die Mittelschicht Lettlands und die, die weniger haben, die sich mit einigen hundert Euro im Monat durch steigende Preise kämpfen, manchmal unter Klagen, manchmal beeindruckend glücklich und aufrecht durchs Leben gehend, desillusioniert von der Politik und ihren Versprechungen, gebeutelt von nunmehr 6 Jahren Krise und den im Januar kommenden Euro vor Augen (den wir ja schon seit 3 Jahren geniessen dürfen), kleine Familien und Alleinstehende, oft mit Kindern. So wie bei uns. Und ich bin furchtbar ärgerlich zu hören, dass bereits um 16 Uhr Teile der Decke herunterkamen, Alarme ausgelöst und einige kleinere Läden geschlossen wurden. Aber das Zentrum blieb geöffnet! Es entblösst die tödliche Ideologie, die im Menschen nur den Verbraucher, bzw. im Mitarbeiter eine Arbeitskraft sieht, die bis zur gesetzlich geregelten Grenze (und manchmal darüber hinaus-wer will in diesen Zeiten schon seinen Job verlieren?) ausgebeutet werden dürfen. Der wahre Wert klingt in der Kasse-denn die Kassiererinnen durften ihren Arbeitsplatz offiziell erst verlassen, nachdem der Sicherheitsdienst die Kassenschubladen eingesammelt hatte!! Ein Polizeisprecher sagt in die Kamera, dass gewährleistet ist, dass es keine Plünderungen gibt… Plünderungen!! Ich möchte wissen, wer hier wen ausgeplündert hat? Was ist vielleicht eine oder auch zehn unter den Trümmern eingesammelte Kassenschublade angesichts des Grauens und des zigfachen Todes?

Es stellt sich die uralte Frage, warum Gott solche Katastrophen nicht verhindert? Ich weiss es nicht. Aber Gott sei Dank kommt es auf mein Wissen auch nicht an.

Gott selbst bleibt nicht ohne Antwort. Es ist ihm nicht gleichgültig. Der alle Tränen in einen Krug sammelt und zählt, der unsere Herzen und Sinne kennt und erforscht, dem ist unser Leiden nicht egal. Und das konkrete Leiden der Trauernden in Riga und anderswo ganz bestimmt auch nicht! Advent heisst: Er kommt! Und wo er hinkommt, da breitet sich der Trost aus wie ein Strom und die Tränen werden abgewischt und die Blicke werden gehoben und die Schultern aufgerichtet, und aus der Zerstörung wächst etwas Gutes in den Herzen der Menschen. Ich weiss nicht, warum Gott das Leiden zulässt. Aber ich weiss und habe es vielfach erlebt, dass er trösten kann, wie einen seine Mutter tröstet. Dass er das aufrichtet, was am Boden liegt, den glimmenden Docht nicht verlischen lässt und das genickte Rohr nicht zertrampelt.

Der Advent ist die Zeit des Horchens und des „Mit-dem-Herzen-Sehens“, ob ich nicht ein Wort oder ein Zeichen seines Kommens sehe und entdecke, des Vorbereitens darauf, dass er kommt und bei uns Wohnung machen will. Die Zeit in der ich mich neu auf seine Gegenwart in meinem Leben einstelle. Er kommt und klopft bei mir an. Er kommt mitten in meine Trauer, meine Wut, meine Gleichgültigkeit, meine vorweihnachtliche Erschöpfung oder meine Kämpfe mit mir selbst, mit meiner Familie oder bei der Arbeit. Er kommt und will sich meiner annehmen, will das Böse und Schlimme in Gutes verwandeln-denn darin ist er der Meister-im Heilen und Verwandeln, im Leben Schenken und im Aufbrechen von Gefängnissen.

Friedrich Rückert dichtete 1834: Und wo Du kommst herangezogen/ da ebnen sich des Meeres Wogen,/ es schweigt der Sturm von Dir bedroht./Du kommst, dass auf empörter Erde/der neue Bund gestiftet werde,/ und schlägst in Fessel Sünd und Tod.

Ich wünsche den Trauernden den Trost Christi und uns allen eine gesegnete Adventszeit

Ihr/Euer

Matthias Burghardt, Pfarrer