Liebe Leserinnen und Leser!
Liebe Mitglieder und Freunde der deutschsprachigen Gemeinde in Estland!

Dieses Kreuz zieht den Blick auf sich. Das tut ein Kreuz ja nicht unbedingt. Manche Kreuze stoßen den Blick ab. So schwach, so elend ist Christus dargestellt. Mitunter ist die Darstellung des Schmerzes Christi so gut gelungen, so entschieden gewollt, dass kaum ein Eindruck außer dem des Schmerzes übrigbleibt. Dann ist das Kreuz für viele ein Ärgernis, auch ein ästhetisches und emotionales.
An unserem Kreuz ist Christus lebendig. In meiner Konfirmationsgemeinde war er das nicht. Es war eine Kreuzabnahme: Christus als kahlrasierter KZ-Häftling, stellvertretend für die Folter- und Mordopfer aller Zeiten, auch der jüngsten Zeit. Ein ästhetisches Ärgernis. Mein Großvater sollte nach dem Krieg als Pastor die Wiedereinrichtung seiner ausgebombten Kirche auch in künstlerischer Hinsicht begleiten. Auch für seine Kirche war eine Kreuzabnahme vorgesehen. „Nein“, sagte er „wir beten keinen toten Gott an. Einen sterbenden Christus-ja! Aber keinen toten!“ Mein Opa hatte allerlei durchgemacht, im Ersten Weltkrieg und auch während der nationalsozialistischen Diktatur.
Estland hat zwei Diktaturen hinter sich: Die kommunistische von 1940-41 und 1944-91, und die nationalsozialistische von 1941-44. Mehrere hunderttausend Menschen sind allein in Estland dem Terror der Regime zum Opfer gefallen. Es gäbe doch für die Kirche und den Künstler, theologisch und biographisch, Grund genug, dieses Leiden auch in der Christusdarstellung zu dokumentieren.
Aber der Christus ist kein leidender Christus. Es ist ein triumphierender Christus.


Er trägt die Krone. Der König am Kreuz-„halte, was du hast, damit keiner deine Krone nehme“ sagt der verherrlichte Christus der leidenden Gemeinde. Auch sie trägt die Krone-unsichtbar, mitten in Anfechtung, Verwirrung und Leid. Ein leidender Christus tröstet die Leidenden. Dieser triumphierende Christus trägt sie. Er hält die kämpfende, leidende, „kleine Herde“. Er ist es, der ihr ihre Krone hält. Er ist es, der ihr sagt: „Fürchte Dich nicht! Ich bin stärker. Meine Arme halten und tragen Dich!“ An ihm kann ich mich aufrichten. Ich weiß, dass alle Macht und Brutalität der Welt vergeht, ja, ich weiß, dass auch ich vergehe, so oder so. Er aber bleibt. Die Hände am Kreuz laufen in Schwingen aus. „Unter dem Schatten Deiner Flügel habe ich Zuflucht gefunden.“
Der Hintergrund ist von den roten Wellen geprägt. Eine Verheißung: „Wer an mich glaubt, von des Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen“. Es ist nicht nur Halt in der Not und Zuflucht in der Bedrohung. Er ist auch der, der „in dem Schwachen mächtig“ ist. Der den „glimmenden Docht“ zum „Licht der Welt“ machen kann. Der, “die mit Tränen säen mit Freuden ernten lässt“. Wer an ihn glaubt, der macht einen Unterschied. Mag die Welt an Masse glauben, mag sie an Zahlen ihre Orientierung und ihren Halt finden, mag sie von schreienden Menschenmengen, gut inszenierten Parteitagen und Landkarten mit Gebieten, die in einer Farbe gehalten sind, begeistert sein. Gott setzt auf den einzelnen und auf die kleine Schar derer, die „ihre Knie nicht gebeugt haben vor den Götzen“. Wer an ihn glaubt, von dem geht das weiter, was ihm im Glauben geschenkt wurde. Lebendiges Wasser. Es stillt den Durst, wo Durst nach Leben herrscht. Es schafft einen klaren Kopf, wo alle benebelt zu sein scheinen, es kühlt in der Hitze des Kampfes. Es ist das, was wir alle brauchen, wonach wir alle uns sehnen. Es geht von ihm aus und fließt durch die, die ihm glauben und sich ihm anvertraut haben, in denen „sein Geist Wohnung gemacht“ hat.
Und schließlich die Augen des Königs. Sie haben manche Glieder unserer Gemeinde irritiert. Können sie nicht freundlicher sein? Warum ist der Blick so starr? Fast ohne Ausdruck?
Es ist ein gekreuzigter Christus. Und es gibt wohl keine andere Mimik eines Gekreuzigten, wenn man das leidende Antlitz eben unbedingt vermeiden will, als die des Überwinders. „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“
Wer Jüri Arraks Werk kennt, weiß aber auch, dass es ein kontextueller Christus ist. Es gefällt den meisten Esten nicht, ihre Emotionen zur Schau zu stellen. Man will die anderen nicht damit bedrängen und ist individualistisch genug, davon auszugehen, dass die anderen auch nicht angeht, was in mir vorgeht. Der Überwinder-König zeigt den selbsternannten Göttern dieser Welt, was von ihnen zu halten ist: sie „sind Nichtse“, ihre kläglichen Versuche, den Sieg davonzutragen und das Bewusstsein der Menschen restlos zu besetzen, sind zum Scheitern verurteilt. Er hat seine „Stirn hart gemacht wie einen Kieselstein“. Nicht Propaganda und Lüge, werden ihren Zugang zu ihm finden. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“, aber „wer an mich glaubt, durch den wird lebendiges Wasser“ in die Zeit strömen, der „wird Zuflucht unter dem Schatten meiner Flügel haben“ und keiner wird „seine Krone nehmen“.
„Gott wird nicht müde noch matt, und sein Verstand ist unausforschlich.“ „Seine Augen sehen in alle Lande“, und „wer seinen Namen anruft, der soll errettet werden.“ Amen.

Herzliche Grüße und Segenswünsche

Ihr/Euer
Matthias Burghardt, Pfarrer