Die deutsche Gemeinde in Tartu/Dorpat vor der Umsiedlung 1939
Die deutsche Gemeinde in Tartu/Dorpat vor der Umsiedlung 1939
Zur Zeit der Eigenstaatlichkeit der Republik Estland bestanden bis zur Umsiedlung der deutschen Minderheit 1939 in Tartu/Dorpat zwei deutschsprachige evangelisch-lutherische Gemeinden, beide mit einer langen Tradition und Geschichte. Beide brachten damals bekannte Pastoren und Gemeindeglieder hervor, beide konnten auf ein engagiertes Gemeindeleben und eine reiche soziale Betätigung zurückschauen. Beide sind heute dem Gedächtnis fast völlig entrissen.
Die Johannisgemeinde
Die alte Stadtpfarrkirche zu St. Johann stammte schon aus dem 13. Jahrhundert, wieder und wieder in den durch Tartu/Dorpat wütenden Kriegen beschädigt, aber erst 1944 durch einen Fliegerangriff ausgebrannt und danach fast völlig zerstört, bis sie nach der Unabhängigkeit mit Hilfe der Nordelbischen Evangelischen Kirche und vieler Einzelspenden aus Estland und Deutschland wiederaufgebaut und Ende Juni 2005 in Anwesenheit von Bundespräsident Horst Köhler und Staatspräsident Arnold Rüütel wieder eingeweiht wurde.
Oberpastor bis 1919 war Viktor Wittram, ihm folgte Joseph Sedlatschek im Amt. Daneben gab es eine Reihe von Pastor-Adjunkten (unter ihnen Prof. Dr. Alexander von Bulmerincq, Professor des Alten Testaments an der Universität Tartu) sowie Pastor-Diakone (unter ihnen Wilhelm Schwartz, der zu den am 14. Januar 1919 im Keller des Kassagebäudes von den Bolschewiken ermordeten Märtyrern gehört, sowie als einer der letzten Magister Hellmuth Frey. Kantor war zunächst Herr Lange, später Herr Althausen, der gleichzeitig auch die Orgel spielte (viele Jahre wurde dieses Amt von Prof. Dr. Seesemann versehen, der ohne Noten spielte). Den Kirchenchor leitete Herr Kieris. Vorsitzender des Kirchenrats war zuletzt Oberlehrer Edgar von Cube.
Über angestellte Mitarbeiter verfügte die Gemeinde nur in Form von zwei Kirchenangestellten, einer Gemeindeschwester, der Leiterin des Heims in der Lossi/Schloßstraße, einer Kassiererin sowie zwei Friedhofsaufsehern und einem Kirchendiener. Wie Kurt Kentmann und Gerhard Plath allerdings in ihrem Handbuch „Aus dem kirchlichen Leben der deutschen evangelisch-lutherischen Gemeinden in Estland“ berichten, besaß Oberpastor Sedlatschek die Begabung, Gemeindemitglieder für die ehrenamtliche Gemeindearbeit zu gewinnen. So waren laut Visitationsbericht 1939 in der Johannisgemeinde mehr als 100 Ehrenamtliche in verschiedenen Bereichen tätig.
Zu den Einrichtungen, die diese Schar von Helfern betreute, gehörten insgesamt 12 Gebäude, 2 Friedhöfe, 2 Pastorate, der Mädchenkreis, der CVJM. Besonders zu erwähnen sind das Alidestift sowie das Stift für alte Frauen in der Lille/Blumenstrasse mit 100 Stiftsdamen, das Heim in der Lossi/Schloßstraße (Altherrenheim). In der Soola/Salzstraße bestand ein Haus für übergemeindliche Jugendarbeit. Zusätzlich übernahm die Johannisgemeinde die Betreuung des Damenstifts „Friedheim“, das dem Hilfsverein gehörte. Weiterhin bestanden zwei Frauenbibelkreise, zwei Gebetskreise, ein Männerbibelkreise und diverse Hauskreise.
Die Jugendarbeit wurde gemeinsam mit der Universitätsgemeinde organisiert. Ein Kindergottesdienst fand sonntäglich in der Johanniskirche statt. Darüber hinaus gab es regelmäßige Jugendgottesdienste. – Weiterhin gab es den Missionskreis sowie die Notleidendenfürsorge. Ein Sammlerinnenkreis holte die Beiträge der Gemeindeglieder dazu ein.
Dieses reiche Gemeindeleben ist Zeugnis für das feste christliche Fundament der Dorpatenser jener Tage, allerdings auch dafür, daß Fürsorge und Miteinander keine staatliche oder obrigkeitliche Aufgabe, sondern in erster Linie Ausdruck der Nächstenliebe jedes einzelnen sind.
Die Universitätsgemeinde / Deutscher Beichtkreis
Auch die Universitätsgemeinde schaute auf eine lange und eng mit der Universität verknüpfte Geschichte zurück. Das Kirchengebäude wurde 1860 eingeweiht, nachdem die Gemeinde lange in verschiedenen anderen Räumlichkeiten zu Gast war. Die Universitätskirche war die Gemeinde der Stundenten und Professoren sowie deren Familien. So war der Pastor der Gemeinde auch stets Teil des Lehrkörpers an der theologischen Fakultät.
Über alle Grenzen bekannt geworden ist Pastor und Professor der Praktischen Theologie an der Universität Dorpat, D. Traugott Hahn, der seine Gemeinde in der schwersten Zeit der bolschewistischen Okkupation 1918/1919 nicht verließ, gerade in dieser Zeit ein Licht des Glaubens war und als Märtyrer an der Seite seines orthodoxen Glaubensbruders Bischof Platon im Keller des Kassagebäudes kurz vor der Befreiung durch weiße Truppen am 14. Januar 1919 starb. Ihm folgte als Seelsorger vorübergehend Prof. D. Otto Seesemann (a. o. Professor für Altes Testament und in estnischer Zeit für Neues Testament). Präses der Gemeinde war bis 1921 Georg von Bradke. Die Universitätsgemeinde hatte laut Zählung 1920 insgesamt 518 Mitglieder, davon 433 zahlende.
Die Universitätsgemeinde wurde 1921 in zwei sogenannte Beichtkreise geteilt (überall dort, wo sich zwei verschiedene sprachliche Gemeinden ein Kirchengebäude teilten oder wo eine Mehrheitsgemeinde eine anderssprachige Gemeinde als Gast beherbergte, kam es zur Einrichtung von Beichtkreisen): einen estnischsprachigen (erster gewählter Pastor war 1921 Hugo-Bernhard Rahamägi, diesem folgte von 1934 bis 1939 der Professor für Praktische Theologie und zeitweilige Rektor der Universität Johann Kõpp) und einen deutschsprachigen. Angelegenheiten, die die Gemeinde als ganzes betrafen, wurden im gemeinsamen Kirchenrat beraten. Kentmann und Plath heben für das harmonische Wirken dieses Gremiums besonders den Kurator der Universität Prof. Peter Põld auf der estnischen Seite sowie Prof. Dr. Johannes Meyer (Chefarzt der Mellinschen Kliniken) für die deutsche Seite hervor.
1922 übernahm Pastor Ralf Luther (bis dahin Pastor in Kusal) als Seelsorger die Leitung des deutschsprachigen Beichtkreises. Er verstarb im Juni 1931. Ihm folgte bis zur Umsiedlung Pastor Gunnar Knüpffer (bisher Pastor-Adjunkt an der estnischen Pauluskirche in Tartu/Dorpat). Daneben waren viele Prediger aus den Reihen der Universität an der Gemeinde tätig, unter ihnen Professor Karl Girgensohn als Pastor-Adjunkt, Professor Adalbert Baron Stromberg, Pastor Eduard Steinwand und Wolfram von Krause, ebenfalls als Pastor-Adjunkt.
Präses des deutschen Beichtkreises war ab 1921 der bereits genannte Prof. Dr. Johannes Meyer, Kassenwart Ernst Freimuth, Organist Otto Freimuth. Es gab auch an der Universitätsgemeinde einen Helferkreis sowie eine Notleidendenfürsorge. Leitende Persönlichkeiten hierbei waren Fräulein Vally Post, Fräulein Elisabeth Hirsch und Frau Ellinor von zur Mühlen. Zur Gemeinde gehörte ein Pastorat im Valikraavi/Wallgraben 25, wo für beide Pastoren je eine Etage zu Wohnzwecken zur Verfügung gestellt wurde.
Nach den statistischen Daten von 1936/1939 (Kentmann/Plath) hatte der deutsche Beichtkreis vor der Umsiedlung eine Größe von 750 Mitgliedern. Zunächst wurde der deutsche Beichtkreis 1939 mit der Umsiedlung aufgelöst, aber schon ein Jahr später traf dieses Schicksal auch den estnischen Beichtkreis, als 1940 die Theologische Fakultät und damit die Universitätsgemeinde insgesamt aufgelöst wurden. Eine kurze Wiederbelebung erfolgte während der deutschen Besatzung in den Jahren 1941-1944. – Leider wird heute dieses als Saalkirche errichtete Gotteshaus, das als „Wirkungsstätte eines Christiani, Lütkens, Hoerschelmann, der Predigtort eines Volck, Oettingen, Reinhold Seeberg und vor allem Engelhardts“ (so Traugott Hahn in seiner Festpredigt zum 50jährigen Jubiläum 1910) gepriesene Ort des Glaubens nur als Büchermagazin benutzt.
Die Geschichte der deutschen/deutschsprachigen Gemeinden bzw. des Beichtkreises, vor allem der Menschen, die hier als Christen miteinander wirkten und Ihren Glauben miteinander lebten, soll nicht vergessen sein. Aus dieser Geschichte eine Brücke in die Zukunft zu bauen, soll der neuen deutschsprachigen Gemeinde oder, um in den alten Begriffen zu bleiben, dem deutschen Beichtkreis in der Maarja-Gemeinde in Tartu, eine Verpflichtung sein.
Zur weiteren Lektüre über die Geschichte der deutschsprachigen Gemeinden in Tartu/Dorpat wird empfohlen:
Theodor Hasselblatt: Der deutsche Anteil am estländischen Kirchenwesen in der Zwischenkriegszeit. In: Boris Meissner / Dietrich A. Loeber / Cornelius Hasselblatt (Hrsg.): Die Deutsche Volksgruppe in Estland während der Zwischenkriegszeit und aktuelle Fragen des deutsch-estnischen Verhältnisses (Bibliotheca Baltica). Hamburg ²1997, S. 134-140.
Kurt Kentmann / Gerhard Platz: Aus dem kirchlichen Leben der deutschen evangelisch-lutherischen gemeinden in Estland. Hannover-Döhren 1969.
Heinrich Wittram: Glaube und Wissenschaft. Die Geschichte der Universitätskirche und -gemeinde in Dorpat 1847-1921. In: Zeitschrift für Ostforschung 41 (1992), S. 543-566.
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